Geschichte des weiblichen orgasmus
Dr Adam Kay
Da dieses Thema im Geschichtslehrplan ganz offensichtlich nicht vorgesehen ist, habe ich beschlossen, Euch einmal auf eine kurze Reise durch die Geschichte des weiblichen Orgasmus mitzunehmen.
MITTELALTER
Es wird niemanden verwundern, dass wir unser Augenmerk heutzutage wesentlich stärker auf die Bedeutung des weiblichen Orgasmus und die Freude am Sex legen als, sagen wir mal, vor hundert Jahren. Wenn wir aber die Uhr zurückstellen und uns ins Mittelalter zurückversetzen, dann legten die Menschen damals wesentlich mehr Wert auf den weiblichen Orgasmus als im viktorianischen Zeitalter. Der Grund hierfür war der (wenn auch völlig falsche) Glaube, dass Frauen zum Höhepunkt kommen müssen, um schwanger werden zu können – weshalb die Ehemänner stark darauf bedacht waren, ihre Frauen zum Orgasmus zu bringen.
Dies zog leider eine tragische Konsequenz nach sich – es wurde gesetzlich festgelegt, dass eine mutmaßliche Vergewaltigung, bei der eine Frau schwanger wurde, von Gesetzes wegen nicht als Vergewaltigung betrachtet werden konnte, da sie während des Geschlechtsakts vermeintlich zum Höhepunkt gekommen war. Noch im Jahr 1814 hieß es in Samuel Farrs Textbuch „Elements of Medical Jurisprudence“ (Grundlagen der Rechtsmedizin): „Ohne Genuss an der sinnlichen Freude kann keine Empfängnis stattfinden.”
DAS VIKTORIANISCHE ZEITALTER
Der viktorianische Arzt Pierre Briquet behauptete, dass ein Viertel der Frauen unter „Hysterie“ leiden würden, zu deren Symptomen er sexuelles Verlangen und „übermäßige vaginale Ausscheidungen“ zählte. Die verklemmten Viktorianer hatten damit die ganz normale weibliche Sexualität zur Krankheit erklärt. Die normalerweise verschriebene Behandlung war eine „Beckenmassage“, im Wesentlichen die Verwendung von sehr frühen Formen von Vibratoren – wobei die „Hysterie“ von Frauen behandelt wurde, indem man sie zum Orgasmus brachte. Diese Geräte waren die wohl unsinnlichsten Geräte, die man sich nur vorstellen kann: der „Manipulator“ von 1891 war dampfbetrieben und so laut, dass man dabei sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.
Ein positives Ergebnis dieser regressiven Geschichtsepoche war allerdings die Verbreitung des Vibrators aus den Arztpraxen heraus und in die Supermarktregale hinein. Tatsächlich war der Vibrator das vierte Haushaltsgerät, dem die Entdeckung der Elektrizität zugutekam (nach dem Toaster, Ventilator und Wasserkocher). Diese Vibratoren fanden reißenden Absatz, wurden aber nie unter ihrem wahren Zweck vermarktet, sondern normalerweise als „Massagegeräte“ oder „Blutstimulatoren“ beschrieben.
20. JAHRHUNDERT
Es dauerte noch bis in die 1940er-Jahre hinein, bis ein richtiger Diskurs über das Thema der weiblichen Sexualität stattfand. Die Kinsey-Reports waren regelrechte Bestseller, und Alfred Kinseys Umfragen, die inzwischen fast schon Kultcharakter haben, enthüllten zum Beispiel, dass fast die Hälfte der Frauen ihren ersten Orgasmus durch Masturbation erleben. Endlich wurde das Thema offen diskutiert. Und dennoch brauchte die American Psychiatric Association noch bis 1952, bis sie die Diagnose der „Hysterie“ nach einem umfassenden Wandel des Verständnisses, dass diese so genannten „Symptome“ ganz normal und gesund waren.
Erst 1957 erfolgte dann die erste medizinische Forschung zum Thema Orgasmus – zu einer Zeit, als die sozialen Schranken sich gerade genug gelockert hatten, um dieses Thema als akzeptables Forschungsgebiet für Wissenschaftler zu betrachten. Masters und Johnson führten bahnbrechende Studien durch, in denen sie untersuchten, wie und warum Frauen zum Orgasmus kommen, und damit den Weg für unser heutiges Wissen ebneten.
Die dritte Welle des Feminismus in den 1990er-Jahren durchbrach dann viele der noch verbleibenden Tabus rund um das Thema der weiblichen Lust, und sie wurde zu einem immer häufigeren Thema in Büchern, Filmen, im Fernsehen und auf der Bühne – wie im Theaterstück „Die Vagina-Monologe“ aus dem Jahr 1996.
HEUTE
Der weibliche Orgasmus wird in den Medien immer noch wesentlich seltener behandelt als sein männliches Gegenstück. Wir alle, Männer und Frauen, müssen über das Thema sprechen – offen und ohne Scham –, um ihm endlich einen identischen Stellenwert im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verschaffen. Schließlich ist es so alt wie die Zivilisation selbst – was könnte also natürlicher sein?
Dr. Adam Kay
Dr. Adam Kay erhielt seine Approbation als Arzt im Jahr 2004 und arbeitete seitdem ausschließlich in den Bereichen Geburtshilfe, Frauenheilkunde und sexuelle Gesundheit. Er ist der Autor des erfolgreichen medizinischen Lehrbuchs „Rapid Obstetrics and Gynaecology“ und schreibt über Gesundheitsfragen für Cosmopolitan UK. Er ist außerdem einer der gefragtesten Dramaturgen für Fernsehkomödien.